Ich war gerade 3 Wochen auf einer Vater-Sohn-Kur im Schwarzwald. Ganz in der Nähe des Feldbergs. Eine sehr waldreiche Gegend. Auf Spaziergängen und beim Nordic Walking durchstreifte ich fast jeden Tag einen auf den ersten Blick mystisch wirkenden Fichtenwald mit dickem weichen Moosteppich. Ich liebe den Geruch von Harz und Moos. Ich kann in einen Wald eintauchen wie in einen Roman oder einen Traum. Aber dieser Wald war ein Wald ohne Seele. Dies war forstwirtschaftliches Betriebsgelände, eine endlose Fichtenmonokultur. Und nicht nur hier. Rundum schien der Hochschwarzwald nichts als trostlose Holzpoduktionsfläche zu sein. Wenn ich über die mit Fichten bedeckten Hügel blickte, fühlte ich eine seltsame Einsamkeit. Ich schaute auf eine Welt, die auf ihre Dinghaftigkeit reduziert zu sein schien. Hier war kein Platz für Geheimnisse. Und es machte mich wütend, wie man eine Landschaft dermaßen verkommen lassen kann. So wie man beim Anblick eines Plastik-Weihnachtsbaumes angeregt sein mag über den Wert des Lebendigen nachzudenken, so brachte mich dieser Wald dazu, dem Wesen des Waldes nachzuspüren, oder dem Wald in mir. Sagen Sie mal mehrfach laut hintereinander das Wort „Schreibmaschine“ und spüren Sie nach, was da in Ihrem Kopf passiert. Wie bei jedem Wort gibt es so etwas wie einen „Innenklang“. Ihr Gehirn macht etwas mit dem Wort und obwohl das meist unbewusst ist, ergibt sich eine subtile Verschiebung in Ihrer Gestimmtheit. Bei mir ist das Resultat eher spröde. Irgendwie spitz, metallisch, klappernd. Nicht sehr vielschichtig. Jetzt wiederholen Sie das mal mit „Wald“. Sagen Sie ganz oft hintereinander laut das Wort „Wald“. Passiert etwas? Bei mir schon. Es wird grün in mir, geborgen und wild gleichzeitig. Und ich spüre eine Tiefe, die im alltäglichen Optimierungskrampf abhanden gekommen ist.
Es gibt einige wichtige Wälder in meinem Leben. Am meisten geprägt haben mich die Wälder meiner Kindheit. Zuerst einmal der Holter Wald. Das war während meiner ersten 18
Lebensjahre der nächst gelegene Wald. Er ist mir als Kind zur Gegenwelt geworden. Hierhin bin ich oft nach dem Mittagessen mit dem Fahrrad gefahren. „Waldbaden“ sozusagen. Ich hatte meine ganz
besonderen Plätze in diesem etwa 620 Hektar großen Wald, die ich noch heute wieder finden würde. Manchmal legte ich mich einfach mit dem Rücken auf den Boden und schaute in die Wipfel der großen
Kiefern. Für mich waren das heilige Orte. Hier kam ich zur Ruhe und konnte mich wieder mit der Weite füllen, die die verhasste Schule zuvor regelrecht zerhackt hatte. Später übte ich im Holter
Wald „Überleben“. Ich hatte mit großer Begeisterung die Survival-Bücher von Rüdiger Nehberg gelesen. Also baute ich mit einem Freund ein Rinden-Tipi und probierte (ekelige)
Birkenrinden-Spaghetti. Immerhin: ich überlebte.
Der zweite wichtige Wald in meinem Leben war der Tisvilde Hegn im Norden von Seeland, nicht sehr weit von Kopenhagen. Im Alter von 13 Jahren machte ich dort
Urlaub mit meiner Familie. Ich fuhr mit einem schweren Ackergaul von Fahrrad durch den hügeligen Wald, der sich bis zum herrlichen Dünenstrand erstreckte. Im Radio lief in dieser Zeit gerade der
Hit „My favorite waste of time“ in der Version von Paul Owen. Es war mein Soundtrack zum Wald und sorgte für eine subtile erotische Grundstimmung – naja, ich war dreizehn.
Der Tisvilde Hegn war für mich fast schon ein utopischer Ort. Entrückt aus der profanen Welt. Ein Teil des „Hegn“ hieß „Geisterwald“ weil die kleinen Kiefern hier vom Wind bizarr zerzaust waren. Von dem höchsten Punkt des Hegn konnte man weit über das Meer sehen. Diese Nähe von Wald und Meer hatte mich ergriffen. In der Ferne lag, kaum zu erkennen, eine winzige Insel, die, wie ich unserer viel benutzen Karte von Dänemark entnehmen konnte Hesselö hieß. Selbst im Maßstab 1:300.000 war sie nur ein kleiner Fleck. Es gab keine Schiffslinie dorthin. Und keinerlei Informationen. Für mich war das ungeheuer spannend. Ich hatte diese Insel quasi entdeckt. Später habe ich Hesselö digital in Google Earth besucht. Das Inselchen hat einen Wikipedia-Eintrag, der darüber aufklärt, dass hier einmal Kängurus gelebt haben. Hätte es damals schon Wikipedia gegeben, wäre die Insel uninteressant gewesen. Es war dieser geheimnisvolle Fleck auf der Landkarte, der meine ganze Fantasie forderte. Menschen sind sehr merkwürdig.
Zurück zum Wald. Man sagt, er stehe für das Unbewusste. Für mich ist er ein Raum, in dem ich Kontakt zu meiner Natur herstellen kann. Ich bin ja nicht weniger Natur als eine
Buche oder ein Eichhörnchen. Das zu erkennen gibt mir etwas von der Würde zurück, die in unserer Selbstoptimierungsgesellschaft auf der Strecke bleibt. Ein Eichhörnchen muss sich nicht
optimieren. Klar, das Eichhörnchen ist ja auch nicht zur Verantwortung fähig. Trotzdem kann es ungeheuer befreiend sein, sich demütig der eigenen Natur bewusst zu werden. Das hilft auch,
sich von den verinnerlichten Ansprüchen der Gesellschaft zu distanzieren. Im Märchen ist der Wald ja meistens ein Ort, in dem das Schicksal wirkt. Im Wald irrt man jahrelang herum. Da tauchen
verführerische Zauberwesen auf. Meist geschieht im Wald eine schmerzhafte Verwandlung. Am Ende, wenn man endlich herauskommt, ist man bereichert. Innerlich und oft auch äußerlich. Im Wald
muss man die Kontrolle abgeben. Lebenskrisen können mich in meinen inneren Wald führen. In ein Gefühl von Ausweglosigkeit und Morast. Aber mit der erhöhten Chance, auf ein Zauberwesen zu
treffen. Selbst in der Realität und in Mitteleuropa kann man sich im Wald verirren und sich ein wenig verloren vorkommen. Wenn alle Apps versagen und die Dämmerung einsetzt. Fast ein Luxus in
unserer orientierten Welt. Ein paar mal habe ich im Wald übernachtet. Auf meiner großen Wanderung von Darmstadt nach Santiago de Compostella habe ich einige Male alleine in Waldhütten geschlafen.
Eine gute Erfahrung. Mich ergriff im Dunkeln ein großer Respekt. Ich spürte die Wesenhaftigkeit des Waldes und seiner Bewohner. Angst und Geborgenheit vermischten sich zu einem bittersüßen
Gebräu. Am nächsten Morgen war ich stolz. Und der Instant-Kaffee, den ich mit meinem kleinen Gaskocher aufgebrüht hatte, schmeckte herrlich. Wenn ich das jetzt schreibe, möchte ich sofort wieder
los. Wie die meisten Menschen in diesem Land bin ich von der Natur entfremdet. Ich bräuchte Zeit und einige Überwindung, um mich wirklich einlassen zu können. Ich glaube, das wäre es wert. Eine
Woche zu Fuß durch Wälder und Wiesen zu gehen. Das müsste doch mal drin sein.